Warum neutrale Richterinnen im Internet plötzlich Shitstorms auslösen – und was unsere Psychologie damit zu tun hat
Kaum stand der Name Frauke Brosius-Gersdorf im Raum – als mögliche Richterin am Bundesverfassungsgericht –, da flogen in den sozialen Netzwerken schon die digitalen Fetzen. Juraprofessorin? Okay. Aber warum dieser Aufruhr?
Willkommen in der Debattenkultur 2024, wo das Netz schneller urteilt als man „Verfassungsrecht“ sagen kann. Und dahinter steckt weniger Inhalt als vielmehr ein Zusammenspiel psychologischer Effekte, das unsere politische Wahrnehmung maßgeblich prägt.
Was uns auf die Palme bringt: Wenn “neutrale” Entscheidungen emotional aufgeladen werden
Was auf dem Papier sachlich aussieht – eine Professorin mit fundierter Expertise im Verfassungsrecht – wird für viele zur Projektionsfläche. Der Grund: Motivated Reasoning. Heißt übersetzt: Wir nehmen neue Informationen nicht als neutrale Fakten auf, sondern filtern sie durch unsere eigene Weltanschauung.
Sagt ein möglicher Verfassungsrichter oder eine Richterin etwas zum Thema Schwangerschaftsabbruch, erkennen einige darin ein mutiges Eintreten für Selbstbestimmung – und andere sehen puren Aktivismus. Der Inhalt bleibt gleich, die Interpretation wechselt je nachdem, welches Grundgefühl man bereits mitbringt.
Confirmation Bias: Wenn das Gehirn nur hört, was es hören will
Der Confirmation Bias wirkt dabei wie ein redaktioneller Filter in deinem Kopf. Er sortiert automatisch alles aus, was nicht in dein bestehendes Weltbild passt – und verstärkt alles, was deine Meinung bestätigt.
Dabei reagiert unser Gehirn auf bestätigende Reize wie auf einen Dopamin-Kick. Die Verlierer? Fakten, die zu kompliziert, ungewohnt oder widersprüchlich sind. So wird selbst eine nüchtern geprüfte Personalie wie die von Brosius-Gersdorf zur ideologischen Feindin – oder Heldin.
Wie soziale Medien Meinungen aufblähen: Willkommen in der Echokammer
Jetzt kommt der nächste Hebel ins Spiel: Die Algorithmen sozialer Netzwerke. Sie lieben Inhalte, die Emotionen wecken. Empörung, Wut, Polarisierung – all das performt besser als “Hey, das ist komplex, lass uns differenziert drüber reden”.
- Polarisierende Inhalte werden bevorzugt ausgespielt
- User*innen verbringen mehr Zeit mit kontroversem Content
So entstehen Echokammern, in denen sich Gleichgesinnte gegenseitig Bestätigung liefern – und die Gegenseite als irrational oder gefährlich erscheint. Was auf Twitter oder TikTok trendet, ist also oft nicht das Ausgewogenste, sondern das Lauteste.
Tribal Thinking: Warum wir „unsere“ Meinungen verteidigen
Wir sind tribal unterwegs – ganz ohne Lendenschurz. Ingroup-Bias nennt sich das psychologisch: Was aus unserer Gruppe kommt, finden wir automatisch besser. Bei politischen Themen wird das richtig spürbar. Ob es um Klima, Migration oder Gender geht – wir definieren uns mitunter darüber, welche Meinung wir nicht teilen.
Sobald eine Juristin öffentlich mit einem bestimmten Gesellschaftsbild verknüpft wird, geht es nicht nur um fachliche Eignung, sondern um die Frage: Gehört diese Person zu „uns“ oder zu „denen“?
Dunning-Kruger-Effekt: Wenn Halbwissen laut wird
Ein Phänomen, das besonders im Internet Hochkonjunktur hat: Menschen mit wenig Wissen überschätzen ihr Wissen massiv. Wer bei der Besetzung des Bundesverfassungsgerichts mitreden will, braucht eigentlich tiefes juristisches Verständnis – oder zumindest Respekt vor der Komplexität.
Aber: Die eigene Meinung wird häufig als Expertise präsentiert, Diskussionen verlieren an Tiefe – und an Wahrhaftigkeit.
Emotionale Ansteckung: Wie Empörung viral geht
Einer postet seinen Frust – und zehn andere übernehmen die Tonlage. Das ist kein Zufall. Die Sozialpsychologie nennt es emotionale Ansteckung. Gerade Wut und Ärger sind hocheffiziente Emotionen. Sie verbinden, mobilisieren und… eskalieren.
- Empörte Beiträge verbreiten sich schneller als rationale
- Negative Emotionen wirken ansteckender als positive
So wird aus einem differenzierten Vorschlag für eine Richterin plötzlich „ideologischer Umsturz“ oder „Systemanpassung“ – je nach Lager.
Verfügbarkeitsheuristik: Warum ein Satz alles verändern kann
Wer sich an einen einzigen, besonders provokanten Satz erinnert, wird diesen oft über den gesamten Menschen legen. Die langjährige juristische Expertise? Verblasst im Schatten einer zugespitzten Formulierung.
Genau das beschreibt die Verfügbarkeitsheuristik: Unser Gehirn liebt das Prägnante – nicht das Differenzierte. Was emotional hängen bleibt, wird übergewichtet. Der Effekt: Die Debatte wird enger, harscher und oft unfairer.
Moralische Psychologie: Wenn Werte hart aufeinandertreffen
Werten misst jeder Mensch Bedeutung bei – aber nicht auf dieselbe Weise. Während progressive Denkweisen oft Fürsorge und Gerechtigkeit priorisieren, betonen konservative eher Loyalität, Autorität und Tradition. Beide Seiten handeln also moralisch – nur mit unterschiedlichem Kompass.
Daher reicht schon eine öffentliche Äußerung einer Juristin zu Themen wie Abtreibung oder Gleichstellung, um gegensätzliche moralische Reaktionen auszulösen. Es geht dann nicht mehr um einen Job – sondern um Identität und Werteordnungen.
Was wir daraus machen können: Diskussion statt Dauer-Empörung
Die Debatte um Richter*innen wie Brosius-Gersdorf zeigt vor allem eins: Unsere gesellschaftliche Gesprächskultur ist verletzlich – nicht, weil uns Fakten fehlen, sondern weil uns die Fähigkeit zur Selbstreflexion oft abhandenkommt.
Die gute Nachricht? Wer um diese psychologischen Mechanismen weiß, kann anders streiten: bewusster, ruhiger, neugieriger. Die nächste große Aufregung im Netz kommt garantiert – aber wie wir damit umgehen, liegt bei uns.
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